Quelle: "Der SPIEGEL" - 48/2020
»Ich wollte nur noch sterben«
Gesundheit Sie erleben im Kreißsaal Übergriffe und werden gedemütigt: Frauen berichten von traumatischen Erfahrungen unter der Geburt – und wehren sich dagegen.
Ihre Tochter war erst ein paar Tage alt, da schleppte sich Alina Möller über den Krankenhausflur. Noch heute, fünf Jahre später, erinnertsie sich, dass sie unbedingt mit den Schwestern sprechen wollte. Sie habe ihnen eine Frage stellen wollen: warum?
Möller sagt, ihr sei unter der Geburt Gewalt angetan worden. In einem Moment, in dem sie Schutz und Sicherheit gebraucht hätte. Obwohl die Betäubung nicht gewirkt habe,sei ihr Kind per Kaiserschnitt geholt worden. Die 32-Jährige hat die Klinik verklagt. Sie verlangt Schmerzensgeld.
Ihr Fall verdeutlicht ein Problem, das in Deutschland weitgehend unbeachtet ist. Während sich in den USA der Begriff »Birth Rape«, Geburtsvergewaltigung, für Gewalterfahrungen im Kreißsaal etabliert hat, gilt hierzulande zu oft, dass die Geburtshilfe tut, was sie tun muss, und Mütter das auszuhalten haben. Eine neue Studie aber zeigt, dass Frauen dabei Übergriffe, Demütigungen oder Ignoranz erleben. Alina Möller, die in Wirklichkeit anders heißt, ist eine dieser Frauen.
Im Frühling 2015 kam Möller in die Klinik. Die Geburt ihres ersten Kindes wurde eingeleitet. Drei Tage lang lag sie in den Wehen, estatsich fast nichts. Möllerfühlte sich belächelt, trotz heftiger Schmerzen. Und sie weiß, was Schmerzen sind. Sie hat jahrelang Judo gemacht. Ein gebrochener Arm sei nichts gegen die Einleitung einer Geburt,sagtsie. Wegen der Medikamente seien die Wehen immer schneller und heftiger gekommen. Es sei ein regelrechter Wehensturm gewesen. Am dritten Tag habe sie sich wie in einem »katatonischen Zustand« befunden, sagt sie. »Ich konnte mich nicht mehr bewegen, nicht weinen, nicht sprechen.«
Nachdem die Hebamme ihren Muttermund untersucht hatte, habe auf einmal ein junger Assistenzarzt im Raum gestanden, sagt Möller. Er habe sich vorgestellt und sie informiert, sie ebenfalls vaginal zu untersuchen. Möller sagt, sie habe keine Möglichkeit gehabt zu reagieren. Sie habe sich gekrümmt, als der Arzt ihr zwischen die Beine gegriffen habe. »Meine Frau hatstarke Schmerzen, musste das sein?«, habe ihr Mann gefragt. Die Hebamme antwortete nach Möllers Erinnerung: »Der muss das ja lernen.« Möller sagt, sie habe sich noch nie in ihrem Leben so erniedrigt gefühlt.
Wenig später entschied sich Alina Möller für einen Kaiserschnitt am nächsten Tag. Im Operationssaal wurden lokale Betäubung und Spinalanästhesie gesetzt, der Anästhesist testete die Wirkung. Als Möller sagte, dass sie noch alles spürte, veränderte das Team ihre Lagerung, um die Betäubung zu verbessern, und prüfte erneut. Wieder habe sie auf das Piksen reagiert, so Möller. Sie habe gesagt, dass sie esfühlen könne. Trotzdem begann die OP. Sie habe die kalte Klinge des Skalpells in ihrem Bauch gespürt, den schmerzhaften Schnitt, das Auseinanderreißen des Gewebes. Möller sagt, sie habe gewimmert, laut geweint und »Aua« gerufen, mit ihren Augen nach Hilfe gesucht. Doch das OPTeam habe weitergemacht.
Die Klinik teilte dazu mit, es habe für den Anästhesisten keine Anzeichen oder Veranlassung gegeben, weitere Medikamente zu verabreichen. Demnach »bestanden innerhalb der ersten 30 Minuten keine Anzeichen vonseiten der Herz-KreislaufFunktion, die für ein relevantes Schmerzerleben sprechen würden«, so das Krankenhaus auf Anfrage.
Alina Möller aber sagt: »Ich hatte Todesangst und wollte zugleich nur noch sterben.« Das Erlebnis verfolgt sie bis heute. Forscherinnen der Psychologischen Hochschule Berlin haben mehr als 1500 Frauen zu ihren Erfahrungen im Kreißsaal online befragt. Bei etwa 1100 Müttern lag die Geburt weniger als zwölf Monate zurück. Knapp die Hälfte von ihnen gab an, Gewalt unter der Geburt erlebt zu haben. Bei rund 470 Müttern lag zwischen Geburt und Befragung mehr als ein Jahr. Von ihnen gaben mehr als 70 Prozent an, physisch, psychisch oder verbal angegangen worden zu sein.
Lea Beck-Hiestermann leitet die Studie. Die Wissenschaftlerin bezeichnet die Ergebnisse der Befragung als alarmierend. »Gewalt hat viele Gesichter«,sagtsie. Fast ein Drittel der Frauen teilte demnach mit, im Krankenhaus nicht ernst genommen oder sogar lächerlich gemacht worden zu sein. Unterihnen sind auch Betroffene, die von Beleidigungen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens berichteten. Fast 38 Prozent erlebten nach eigenen Angaben physische Gewalt. Dazu gehörten für die MütterInterventionen ohne ihr Einverständnis, unter anderem häufige vaginale Untersuchungen oder die Verabreichung von Medikamenten.
Der SPIEGEL stand für diesen Text mit mehr als einem Dutzend Frauen in Kontakt. Sie berichteten, dass es nicht nur im Kreißsaal, sondern auch auf der Station zu Problemen gekommen sei. Mütter erzählten, im Wochenbett keine Hilfe beim Stillen bekommen zu haben. Das Stationsteam habe ungefragt und mit Gewalt ihre Brüste zusammengekniffen, so eine Betroffene, die Kinder lieblos und mechanisch daran gedrückt. Andere Frauen sagten, sie seien zum Abstillen gezwungen worden, weil es dem Personal nichtschnell genug gegangen sei.
Eine andere Mutter berichtete, wie sie nach dem Notkaiserschnitt genäht wurde. Nackt und offen haben sie auf dem OP Tisch gelegen, um sie herum hätten Putzfrauen gewienert. »Ich fühlte mich wie ein Stück Fleisch, das niemand abholt.«
Eine weitere Frau schilderte, wie sie unter Presswehen von einer Hebamme angeherrscht worden sei: »Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Sie schon fertig sind?« Darauf habe sich die Frau unangekündigt mit dem Ellenbogen auf ihren Bauch geworfen und ihr ungefragt brutal zwischen die Beine gegriffen. »Ich dachte, ich muss sterben«, erinnert sich die Mutter. »Ich trat der Hebamme vor Schmerzen ins Gesicht.«
Die Erfahrungen der Betroffenen ähneln sich: Der Ton im Kreißsaal ist ruppig und laut, die Stimmung hektisch und aufgeheizt, es gibt wenig Fürsorge und Empathie für die Mütter.
Wehentropf, Damm- oder Kaiserschnitt gehören in Deutschland zur Geburtshilfe. Die wenigsten Kinder kommen in Kliniken ohne Interventionen zur Welt. Die Frage ist: Wann wird ein medizinischer Eingriff zu Gewalt? »Alles, was die Frau als übergriffig oder gewaltvoll empfindet, kann als Gewalt angesehen werden«, sagt Ulrike Geppert-Orthofer, Präsidentin des Deutschen Hebammenverbands.
Sie sieht vor allem die Strukturen im Kreißsaal als Problem. Es gebe nicht ausreichend Personal, die Schichten seien eng besetzt. Oft betreuten Hebammen drei bis vier Frauen parallel. Es fehle vielfach an Zeit, sich genügend um die werdenden Mütter zu kümmern. Die Frauen spürten die Anspannung auf den Stationen, sagt Geppert-Orthofer.
Ärzte, Schwestern und Hebammen müssten sich immer fragen, »warum eine Frau ihre Geburt als gewaltvoll« erlebt habe, sagt der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Frank Louwen. Er leitet die Geburtshilfe und Pränatalmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Dass allein mehr Personal Gewalt im Kreißsaal verhindere, glaubt er nicht. »Auch in einer Eins-zu-eins-Betreuung kann Gewalt ausgeübt werden«, sagt er. Kein Eingriff dürfe ohne Erklärung und Einverständnis ablaufen. »Respekt ist in der Geburtshilfe essenziell. Familien geben uns einen wahnsinnigen Vertrauensvorschuss, den wir uns verdienen müssen.« Gute Geburtshilfe funktioniert für Mascha Grieschat im Team. »Die individuellen Bedürfnisse von Mutter und Baby müssen an erster Stelle stehen«, sagt die Hamburger Lehrerin. Die Bedingungen dafür seien aber nicht immer gegeben. Frauen müssten sich in einem der intimsten Momente ihres Lebens einem knapp kalkulierenden Gesundheitssystem beugen.
Grieschat hat die »Initiative für eine gerechte Geburtshilfe« gegründet und engagiert sich auch für den »Roses Revolution Day«. Jedes Jahr am 25. November, dem Tag gegen Gewalt an Frauen, legen Betroffene Rosen vor der Klinik nieder, in der sie ein traumatisches Geburtserlebnis hatten. Manche schreiben einen Brief.
Grieschat hat unzählige Geburtsberichte gelesen und kommt zu dem Schluss: »Eine brutale Entbindung ist in vielen Punkten mit einer Vergewaltigung gleichzusetzen.« Wenn Frauen ohne Einwilligung die Beine auseinandergedrückt, Medikamente verabreicht oder einen Dammschnitt bekommen, würden damit ihre Grundrechte verletzt, sagt sie.
Der »Roses Revolution Day« habe die Diskussion über Gewalt in der Geburtshilfe vorangebracht,so Gynäkologe Louwen. Er fordert einen offensiven Umgang mit den Problemen. Jedes Kreißsaalteam soll45 Traumatische Entbindung Gewalterlebnisse von Frauen während Geburt und Wochenbett 38 % Physische Gewalt z. B. Medikamentengabe ohne Einverständnis, grober Umgang 36 % Vernachlässigung z. B. mangelnde Kommunikation, Ignorieren von starken Schmerzen, Wegschicken der Begleitperson 23 % Mutter-Kind-Beziehung z. B. Trennung vom Kind ohne Absprache, erzwungenes Stillen Quelle: Psychologische Hochschule Berlin (Mehrfachnennungen möglich) 29 % Psychische/verbale Gewalt z. B. lächerlich gemacht werden, abfällige Bemerkungen oder Beschimpfungen, Diskriminierung Daniel Karmann / Picture alliance / dpa Neugeborenes in einer Klinik te sich die Fragen stellen: Wie definieren wir Gewalt? Wie gehen wir mit betroffenen Frauen um?
Die Mutter Alina Möllersagt, dass auch sie vor zwei Jahren eine Rose vor dem Kreißsaal abgelegt und irritierte Blicke des Personals bemerkt habe. »Meine Rose war dort nicht erwünscht.«
Möller suchte auch das Gespräch mit den Verantwortlichen, sie schrieb Briefe. Sie wünschte sich, dassihrjemand zuhört, um Entschuldigung bittet. Und sie hoffte, weitere Vorfälle dadurch zu verhindern. Um Geld sei es ihr ursprünglich nicht gegangen,sagtsie. Doch als die Klinik immer noch nicht auf sie eingegangen sei, habe sie sich juristischen Rat gesucht. Inzwischen fordert Möller Schmerzensgeld in Höhe von 20000 Euro.
Ihre Anwältin Sabrina Diehl aus dem nordrhein-westfälischen Herne berät seit Jahren Frauen, die traumatische Geburten erlebt haben. Oft geht es um Kaiserschnitte ohne ausreichende Narkose, Dammschnitte oder den sogenannten KristellerHandgriff. Dabei soll per Druck auf den Bauch die Geburt beschleunigt werden. Die Gerichtsverfahren seien oft hoch emotional, die Erfolgschancen hingen maßgeblich von Zeugenaussagen und Gutachten ab, sagt Diehl. Sie frage ihre Mandantinnen immer, ob sie die Nerven für einen langen Prozess hätten, ob sie wüssten, worauf sie sich einließen.
Die Betroffenen stehen in den Zivilverfahren in der Beweispflicht. Sie müssen belegen, dass ihnen unter der Geburt durch fehlerhaftes Verhalten ein Schaden entstanden ist. Sollte im Laufe des Prozesses ein Sachverständiger zu dem Ergebnis kommen, dass ein Eingriff medizinisch notwendig und korrekt ausgeführt war, sei das Vorgehen zulässig gewesen, auch wenn es als gewaltsam empfunden worden sei, sagt Diehl. Im Fall von Alina Möller teilte die Klinik mit, dass sich das ungeborene Kind in einer lebensbedrohlichen Situation befunden habe, »die einen notfallmäßigen Kaiserschnitt unumgänglich machte«. Demnach hätte jedes weitere Zuwarten »das lebensbedrohliche Risiko für das Ungeborene vergrößert«, so die Klinik. Das gynäkologisch-geburtshilfliche Gutachten eines Sachverständigen kommt jedoch zu dem Schluss, dass keine Indikation für einen Notkaiserschnitt vorlag. Daher hätte das OP-Team weiter abwarten müssen, ob die Anästhesie wirkt, sagt Anwältin Diehl. Zudem stünde die Frage im Raum, ob ein Kältetest durchgeführt wurde, um die Betäubung zu überprüfen. Auch eine Vollnarkose wäre eine Option gewesen, sagt Anwältin Diehl. Das entsprechende Gutachten zu dieser Frage steht noch aus.
Die Juristin rät allen betroffenen Frauen, so früh und so viel zu dokumentieren wie möglich. Dazu gehören Fotos der Geburtsverletzungen, ein Gedächtnisprotokoll, dazu gehört, sich die Namen potenzieller Zeugen zu notieren. Kliniken reagierten höchst unterschiedlich auf die Vorwürfe, sagt die Fachanwältin für Medizinrecht. »Manche geben offen zu, wenn ihnen ein Fehler passiert ist.« Andere Krankenhäuser erweckten den Eindruck, dasssie aus Streitfällen lernten, wie sie künftig ihre Geburtsberichte verfassen müssten, damit ihnen juristisch nichts passieren könne, so Diehl. Auch die Präsidentin des Hebammenverbands sagt, dass nur wenige Geburtsstationen konstruktiv mit den Vorfällen umgingen. »Es braucht ein vertrauliches Meldesystem, an das sich Mütter und Schwangere wenden können«,so GeppertOrthofer. Nur so könne aus Fehlern der Vergangenheit gelernt werden.
Sie kennt die Realitäten auf manchen Geburtsstationen: Es gibt Kolleginnen, die erschöpft ihre Schicht beenden. Und mit Zweifeln, weil sie nicht auf jede Frau eingehen können. Viele Hebammen reduzieren laut Geppert-Orthoferihre Arbeitszeit, ein Großteil der Angestellten arbeite in Teilzeit. »Andere geben den Job auf, weil sie die Arbeit nicht mehr mit ihrem Berufsethos vereinbaren können.«
In einer Petition an den Bundestag forderte Aktivistin Grieschat Anfang 2018 eine umfassende Reform der Geburtshilfe. 20000 Menschen unterschrieben, darunter Gynäkologen und Hebammenverbände. Mehr als zwei Jahre später, im Juni 2020, erhielt Grieschat eine Antwort. Darin hieß es, die Standards der Weltgesundheitsorganisation würden in Deutschland im Wesentlichen umgesetzt und böten keinen konkreten Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Versorgungssituation.
Die Antwortsei »ein Schlag ins Gesicht aller Betroffenen«,sagt Grieschat. Gewalt unter der Geburt habe traumatische Folgen für alle Beteiligten, auch für das medizinische Personal. »Der Unterschied ist nur: Für die Gebärende gibt es keine zweite Chance.«
Die neue Studie ausBerlin zeigt, wie dramatisch die Folgen der Gewalterfahrungen sein können. So sagten mehr als 300 der befragten Frauen, dasssich die Bindung zu ihrem Kind schlechter oder nur verzögert entwickelt habe. Das bestätigten auch die vom SPIEGEL kontaktierten Frauen.
Sie erzählten, dass sie ihre Rolle als Mutter anzweifelten oder ihre Familienplanung überdächten. Manche sagten, sie hätten über Monate nurfunktioniert. Viele konnten die Kliniken, in denen sie entbunden haben, über Jahre nicht betreten.
Ende Mai ist Alina Möllers Tochterfünf Jahre alt geworden. Den Geburtstag zu feiern fiel der Mutter lange schwer. »An diesem Tag ist meine Tochter geboren worden, und ich bin gestorben«, sagt sie. Das erste Jahr nach der Geburt habe sie sich im Überlebensmodus befunden. Sie litt unter Schlafstörungen und Flashbacks. Später wurde bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
Möller suchte sich Hilfe. Als sie zum zweiten Mal mit Zwillingen schwanger war, bekam sie einen Platz bei einer Traumatherapeutin. Für die Geburt wählte sie ein anderes Krankenhaus, fühlte sich dort gut umsorgt. Doch während der Niederkunft erlitt sie eine massive Panikattacke, es kam zu einem stundenlangen Geburtsstillstand. Die Ärzte mussten einen Kaiserschnitt unter Vollnarkose machen. Möllers Zwillinge sind inzwischen drei Jahre alt. Sie sagt, erst jetzt könne sie die Zeit mit den Kindern richtig genießen. Und sie merkt, wie viel sie verpasst hat. Ihre Familie verleihe ihr Kraft, anderen Betroffenen eine Stimme zu geben.
Mit dem Prozess will sie zeigen, dass sie kein Einzelfall ist, dass es kein Zufall war, wasihr passiert ist. Es klinge vielleicht kitschig, sagt sie, aber sie denke dabei immer auch an ihre Töchter. »Wenn sie einmal Kinder bekommen, soll der Tag der Geburt der schönste in ihrem Leben sein.«
Autor: Sarah Heidi Engel